Weekly outline
12.11 Biographische Skizze
- R.-D. Keil: N.W. Gogolʼ (7–21; 43–54)
- G. Luckyj: The anguish of Mykola Hohol (27–54)
Die Ausgangshypothese für unsere Lektüre der „ukrainischen“ Texte (Abende, Vij, Taras Bul’ba) ist, dass Gogol’ als Ukrainer über die Ukraine für Russland unter russischem Blickpunkt schreibt. Koropeckyj spricht in seinem Aufsatz vom „trianguliertem Blick“: Ein (subalternes) Subjekt wird nicht einfach dargestellt, sondern die Darstellung liefert bereits einen Perspektive, unter der es rezipiert werden soll.
In diesem Sinne schreibt sich Gogol‘ in eine faktische Eroberungsgeschichte der Ukraine durch das imperiale Russland ein und bedient sich bestimmter stereotyper Darstellungen der Ukrainer, etwa als faul oder schlau. Fakt ist also: Gogol‘s literarische Karriere profitiert von einer (kolonialen) (Selbst-)Exploitation.
Nun ist diese imperiale Selbsteinschreibung der Ukraine – und das ist die zweite Hypothese – nicht eindeutig; vielmehr geht die hegemoniale Perspektive des ‚triangulierten Blicks‘ in die Perspektive des Kolonisierten über und wird so zu einer subversiven Kritik.
Mit diesen Hypothesen gehen wir nun in unseren ersten Block, den Abenden auf einem Weiler bei Dikan’ka.
Die erste Geschichte des Zyklus‘, der Sorotschinsker Jahrmarkt, ist in vielerlei Hinsicht die harmloseste: aller teuflischer Spuk ist nur ‚lustige‘ Erfindung und die beiden Verliebten heiraten am Ende. Koropeckyj vergleicht Gogol’s Darstellung mit der Minstrel-Darbietung in den USA. Auf den ersten Blick erscheint diese Zusammenstellung weit hergeholt, auf den zweiten Blick ist es erstaunlich, wie ‚transkulturell‘ bestimmte (rassistische) Stereotype sind: Koropeckyj betont zwei – die ‚Lustigkeit‘ des kolonisierten Subjekts („singen und tanzen“) sowie seine Faulheit (und Gefräßigkeit). Das Singen und Tanzen der Ukrainer spielt auch im Jahrmarkt eine wichtige Rolle.
Wie bei der Diskussion des Vorworts in der zweiten Sitzung bereits erwähnt, ist die Folklore der Abende ein bloßes Stilmittel. Dieser Umstand wird in der Mainacht sehr humorvoll desavouiert: Als Dank für seine Dienste gibt die Nixe dem Levko nicht etwa einen Zaubertrank, sondern… einen offiziellen Amtsbrief, der aber seine Heirat mit Hanna ermöglicht. Der Humor, der bei Gogol‘ sich immer aus Kontrasten ergibt, erreicht hier einen größtmöglichen Höhepunkt; nämlich dem Kontrast zwischen dem Märchendiskurs und dem amtlichen Schriftstück (der freilich ‚volkstümlich‘ wiedergegeben wird).
Ein weiteres Thema wird hier virulent, der familiäre Konflikt. Was im Jahrmarkt nur angedeutet ist (Konflikt der Tochter mit der Stiefmutter) wird hier ausgeführt: Schrecklicher Vater (stellt der selben Frau nach wie der Sohn -> Ödipus), grausame Mutter (in der Russalka-Episode). Dieses Thema wird noch in "Schreckliche Rache" und "Taras Bulba" ihren Höhepunkt erreichen.
Die Staffage der Folkloristik wird in der Weihnacht vorgeführt. Die Kosaken spielen der Zarin ihre kulturelle Fremdheit vor, während Vakula an die Darbietung wirklich glaubt und damit – und das ist die tiefe Ironie der Passage – den meisten Erfolg hat. Ein erotisches Motiv kommt ebenfalls zum Vorschein: die sexuelle Fetischisierung des Fußes. Andererseits ist es ebenfalls eine (komische) Realisierung der Metapher des Stifelleckens, der hier quasi aus Zucker ist. Erotische Perversion ist an imperiale Praktiken gebunden.
Als letztem Stück aus dem "Abende"-Zyklus wenden wir und der Schrecklichen Rache zu. Zwei Motive sind bestimmend: Des Verrats und der Unentrinnbarkeit familiärer Verstrickung: Wie in "Taras Bul'ba" wendet sich Bruder gegen Bruder und Vater gegen die Kinder.
Der zweite Zyklus nach den "Abenden" ist "Mirgorod". Zunächst "Vij", für den Rancour-Laferriere eine (schöne?) psychoanalytische Deutung gibt. Wichtiger für uns ist die Deutung des kolonialen Un(ter)bewussten: die Rache der (kolonisierten) Frau an ihren Peinigern.
Den letzten Text des "Ukrainischen Komplex'" bildet "Taras Bul’ba". Für eine heute Kanonisierung Gogol‘ wäre die Misogynie sicher ein Problem und natürlich der Antisemitismus, für den "Taras Bul’ba" ein besonderes widerwärtiges Beispiel abgibt (die Darstellung der „Zigeuner“ und der Polen ist freilich ebenfalls problematisch). Dem Juden Jankiel werden aber auch einige interessante Aussagen in den Mund gelegt, so etwa die Feststellung, dass Andrij zu den Polen übergelaufen ist, "weil es dort besser ist". Dies ist einerseits ein antisemitisches Klischee vom heimatlosem (und damit heimatverratendem) Juden, doch erinnert es sehr stark auch an Taras‘ eigene Rede, von der Freiheit der Wahl unter den Kosaken. Die eigentliche Pointe des "Taras Bul’ba" ist die Widerlegung der Freiheit. Taras ist schrecklicher Gott, der seine seine Kinder tötet (Kronos -> googeln) oder opfert (Abraham/Isaak) (Dass Taras schlechterdings unfähig ist, seinen Sohn zu retten wird in der Kerkerszene angedeutet). Die epische Größe erreicht Taras allein durch Autoaggression und Selbstzerstörung. In dieser Andeutung ist nicht nur die Kritik des Kosakentums lantent angelegt, sondern der (imperialen) Aggression schlechthin - Wer das Schwert nimmt, der soll durch das Schwert umkommen.
19.11 Der Sorotschinsker Jahrmarkt
N.V. Gogolʼ: Der Sorotschinsker Jahrmarkt (15–47)
N.V. Gogolʼ: Soročinskaja jarmarka (15–38)Sekundärliteratur:
R. Koropeckyj / R. Romanchuk: „Ukraine in Blackface“ (525–547)
Die Erzählung Soročinskaja jarmarka entstand zwischen 1830–1831. Die Motti an den Anfängen der Kapitel sind teilweise Kotljarevskij ėneida (-> googeln!), teilweise den Stücken von Gogol’s Vater entnommen.
Fragen zum Text
- Suchen Sie die Stellen, an denen die ukrainische Landschaft beschrieben wird. Welche Stilmittel werden hier verwendet? (Wie wird die Landschaft/Ukraine konstruiert/beschrieben?) Wie unterscheiden sich die Landschaftsbeschreibungen (stilistisch) von dem Rest der Textes?
- Welche Eigenschaften werden den Ukrainern zugeschrieben? Welche Stereotype sind bei Männern/Frauen eingesetzt?
- Geben Sie eine kurze Liste von Motiven der Folklore in der Erzählung an.
Fragen zum Sekundärtext
- Was ist eine „blackface performance“ und inwiefern läßt sich diese Kategorie auf den Sorotschinsker Jahrmarkt anwenden?
- Was bedeutet „triangulation of the gaze“ und inwiefern läßt sich diese Kategorie auf den Sorotschinsker Jahrmarkt anwenden?
- Welche Interpretation gibt Koropeckyj der anekdotischen Geschichte der lachenden Setzer und was lässt sich daraus für das (imperiale) Verhältnis von Gogol‘ und Puškin ableiten?
26.11 Die Mainacht
N.V. Gogolʼ: Die Mainacht (68–103)
(N.V. Gogolʼ: Majskaja noč (52–79))Sekundärliteratur:
Yu. Ilchuk: „Nikolai Gogoʼʼls Self-Fashioning in the 1830s: The Postcolonial Perspective“ (203–221)
Fragen zum Text:
- Geben Sie eine Liste der (zerrütteten) Familienverhältnisse in der Erzählung an!
- Welche politischen Ereignisse und politischen Personen kommen (im Hintergrund der Erzählung) vor? Lässt sich daraus eine Datierung der Erzählung ableiten?
Zum Sekundärtext
- Wie funktioniert Gogol’s „self fashioning“ im Anfang seiner Karriere? Erklären Sie den Begriff und erläutern Sie ihn an einem Beispiel aus Gogol’s Biographie.
- Wie stellt Ilchuk das Verhältnis von Gogol‘ und Puškin dar und wie unterscheidet sich ihre Sicht von der Koropeckyjs?
- Suchen Sie sich drei Namen von Gogol’s literarischen Gönnern und Kollegen aus dem Text und googeln Sie sich jeweils eine Kurzbiographie zusammen.
03.12 Die Weihnacht
N.V. Gogolʼ: Die Weihnacht (124–178)
(N.V. Gogolʼ: Noč pered roždestvom (91–129))Sekundärliteratur:
M. Shkandrij: Russia and Ukraine (85–124)
Zum Text
- Aus der Genderperspektive: Wie werden Männer/männliche Macht vs. Frauen/weibliche Macht im Text konzeptualisiert? Welches „Geschlecht“ haben Russland bzw. die Ukraine? Wie ist das Verhältnis zwischen ihnen?
- Wichtiges Motiv bei Gogol‘: das Essen. Finden Sie Beispiele für Nahrung/Nahrungsaufnahme/Nahrungsmetaphern und beschreiben Sie ihre Funktion
- Wie ist Verhältnis von Ukraine/St. Petersburg (in Bezug auf das Märchenhafte/Phantastische?)
- Wie funktioniert die kleine Ethno-Show der (Selbst-)Exotisierung der ukrainischen Gesandtschaft bei Katharina II.? Welchen geschichtlichen Hintergrund hat diese Episode?
Zum Sekundärtext
- Machen Sie sich mit Rogneda und Mazepa bekannt (Google!) Welche Kunstwerke sind beiden gewidmet? Welche Motive bei Gogol‘ lassen sich spontan mit dem Schicksal der beiden Personen verbinden?
10.12 Schreckliche Rache
N.V. Gogolʼ: Schreckliche Rache (179–228)
(N.V. Gogolʼ: Strašnaja mestʼ (130–164))Sekundärliteratur
- K. Rakhno: „The Thanatological Motifs in a Terrible Vengeance“ (143–161)
- S. Krys: „Allusions to Hoffmann in Gogolʼʼs Early Ukrainian Horror Stories“ (243–266)
Zum Text:
- Schreckliche Rache handelt von einer schrecklichen Rache, klar, aber auch von einer bemerkenswerten Konstellation von Raum/Landschaft und (Weit-)Blick/Sichtbarkeit. Beschreiben Sie diese. Hat es etwas mit der imperialen Vereinnahmung der Ukraine zu tun?
- Welche – ethnischen – Feindbilder werden in der Schrecklichen Rache aufgerufen? Mit welchen – rassistischen – Charakterisierungen werden sie versehen?
Zum Sekundärtext
- Beschreiben Sie die Polemik um die Abende bei deren Erscheinen. Welche Akteure nahmen daran Teil (bitte alle Namen googeln!), welche Argumente wurden ins Feld geführt?
17.12 Filmsichtung: Gogol - Der Anfang
Suchen Sie drei Elemente aus Gogol's Biographie und/oder den "Abenden", die im Film genauso/anders dargestellt werden. Welche ideologische Rolle kommt ihnen im Film zu?
Die gesammelten Aufgaben können Sie hier anhängen!
07.01 Vij
N.V. Gogolʼ: Der Wij (453–499)
(N.V. Gogolʼ: Vij (321–355))Sekundärliteratur:
- D. Rancour-Laferriere: „The Identity of Gogolʼʼs Vij“ (211–234)
- E. Levkievskaja: „Zur Frage einer Mystifikation oder Gogols Vij im Lichte der ukrainischen Mythologie“ (307–316)
Sigmund Freud hat sich bei seiner Konzeption des Unbewussten von der Romantik inspirieren lassen – siehe etwa seiner berühmte Interpretation des Sandmanns von E.T.A. Hoffmann in der Abhandlung Über das Unheimliche (1919). Und tatsächlich kommen zahlreiche Motive des Unbewussten auch bei Gogolʼ vor: In der Schrecklichen Rache heißt es: „Arme Katharina! Sie weiß vieles nicht, was ihre Seele [ihr Unbewusstes!] weiß.“ (Gogolʼ 1984, 198). Rancour-Laferriere unterscheidet in seiner psychoanalytischen Interpretation von Vij zwischen einem „nighttime“ und einem „daytime Choma“, wobei der „Nacht-Choma“ mehr weiß, als der „Tag-Choma“ zuzugeben bereit ist (vgl. „Xoma really does know more than he is willing to admit“ (Rancour-Laferriere 1978, 227)
Diese besondere Art des Wissens braucht nicht notwendigerweise im Schlüssel der Psychoanalyse gelesen werden: In Analogie zu Freud könnte man von einem „kolonialen Unbewussten“ ausgehen, das in Vij ebenfalls behandelt wird: Die Unterwerfung und die Angst vor der Rache des Unterworfenen. In diesem Sinne ließe sich das (schließlich umgekehrte) Macht- und Gender-Verhältnis zwischen Choma und der Pannočka/Hexe als ein Paradigma von der Ukraine und Russland deuten.
- Welche Motive des Geschlechterverhältnisses / der Geschlechterstereotype, die wir an anderen Texten von Gogolʼ bereits beobachtet haben, kehren in Vij wieder?
- Welche Interpretation bietet Rancour-Laferriere von Vij? Ließe sich eine ähnliche Interpretation für eine andere (im Seminar bereits besprochene) Geschichte angeben?
14.01 Besprechung Vij
Beschreiben Sie kurz ein Merkmal des Films, das die Ukraine anders repräsentiert als das Buch!
21.01 Die toten Seelen (Teil 1)
N.V. Gogolʼ: Die toten Seelen (5–23; 154–186)
(N.V. Gogolʼ: Mertvye duši (7–18; 109–132))Sekundärliteratur:
- V. Kryvonis: „The Kherson plot in Gogolʼs Dead Souls“ (73–82)
- V. Golstein: „Landowners in Dead Souls“ (243–257)
28.01 Die toten Seelen (Teil 2)
N.V. Gogolʼ: Die toten Seelen (276-317)
(N.V. Gogolʼ: Mertvye duši (216–250))Sekundärliteratur:
R.S. Valentino: „A Catalogue of Commercialism in Nikolai Gogolʼs Dead Souls“ ( 543–562)
04.02 Taras Bulba (Teil 1)
N.V. Gogolʼ: Taras Bulba (303–376)
(N.V. Gogolʼ: Taras Bulʼba (218–269))Sekundärliteratur:
S. Yoon: „Transformation of a Ukrainian Cossack into a Russian Warrior“ (430–444)
Unser Text für die nächsten zwei Wochen ist Taras Bulʼba. Gogol‘ schrieb zwei Versionen des Textes – eine 1835 und eine 1842. Saera Yoon führt im Sekundärtext aus, dass die zweite Version im Effekt eine Transformation „of an Ukrainian tale into a Russian novel“ sei (Yoon 2005, 430). Ein Effekt, der sich in der Verfilmung von 2009 noch zusätzlich verschärft. Tatsächlich schreibt Taras Bul’ba an einem „Cossack myth“ (Yoon 2005, 430), wobei die Kosaken, wie Yoon ebenfalls bemerkt, letztlich russische Kriegen seien.
Wie immer bei Gogolʼ ist diese Mythos aber keineswegs so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Daher wollen wir zwei Thesen von Yoon einer Prüfung unterziehen.
- Yoon schreibt, dass Andrij von dem oberflächlichem Schein polnischer Kultur geblendet sei und sich von ihm über den wahren Charakter der Polen täuschen lasse: „In this respect Andrii belongs tot he group of untalented artists in Gogol’s stories […] who cannot comprehend the truth that is veiled by beguiling beauty“ (Yoon 2005, 434) Ließe sich auch eine andere Charakterisierung Andrijs und der polnischen Kunst/Kultur geben? (vgl. Yoon (2005, 437ff.)).
- Der Sekundärtext behauptet über die politische Struktur der Sič: „No Cossack possesses innate prerogatives and every Cossack has an equal right to voice his opinion at an election. Another reflection of Cossack brotherhood that testifies the principle of organic wholeness in multiplicity lies in the gallery of Cossack warriors portrayed in chapter 9.“ (Yoon 2005, 439) Gibt es Beispiele aus der politischen Praxis der Kosaken, die diesem Bild widersprechen?
11.02 Taras Bulba (Teil 2)
N.V. Gogolʼ: Taras Bulba (377–450)
(N.V. Gogolʼ: Taras Bulʼba (269–320))Sekundärliteratur:
P.A. Karpuk: “Reconstructing Gogolʼʼs Project to Write a History of Ukraine” (413–447)
Der Sekundärtext von dieser Woche ist relativ spezifisch, als dass er Gogol’s Projekt einer Geschichte der Ukraine rekonstruiert, das Gogolʼ in Hoffnung auf eine Professur an der Universität in Kyiv geplant hatte. Aus diesem (unvollendetem) Projekt resultierte letztlich auch der Entwurf zu Taras Bul’ba. Unsere Aufgabe für die Stunde ist aber weitaus weniger anspruchsvoll: Suchen Sie sich bitte ein Motiv / eine Szene aus dem Film, die im Vergleich zu Gogol’s Text besonders ‚russifiziert‘ worden ist!